Wir erleben eine Zeit, in der Berührung und Körperkontakt etwa so ist wie Goldstaub, selten und kostbar.
Für mich war Berührung immer wichtig. Für mich ist Berührung, Nähe, Intimität und Heilung so existentiell, dass ich dafür ein Jurastudium und eine Karriere hinter einem Schreibtisch abgebrochen habe. Ich bin Hure geworden, weil Berührung für mich eine Rolle spielt, die offensichtlich größer als eine Freizeitbeschäftigung ist. Mir dessen gewahr zu werden, brauchte es Zeit. Die meisten Menschen lieben Sex, aber es reicht ihnen, das als Hobby zu betreiben, zumeist sogar nur mit einem Menschen. Das ist völlig ok. Ich aber wollte mehr Zeit mit Berührung, Nähe und allen dazugehörigen Emotionen verbringen, mich damit befassen, mehr darüber wissen, praktizieren und professionalisieren. Da auch ich meinen Lebensunterhalt verdienen muss, ist klar, dass diese Zeit bezahlt werden muss. Et voilá: so bin ich Hure geworden.
Ich liebe Sex, ich liebe den Geruch von Körpern, von Schweiß und Erregung.
Ich mag es, jemandes Atem nah an meinem Ohr zu hören und zu fühlen. Ich atme Menschen gern in Ohr oder flüstere Ihnen Dinge zu, die sie warm bis heiß machen. Ich brauche Gewicht auf meinem Körper, ich habe das Gefühl, dass er sonst platzt. Mein Körper wird nur wahr, wenn er berührt wird, oder ich berühren kann. Wenn Menschen in Debatten um Prostitution abschätzig zu mir sagen „Du bist ja priviligiert! Du hättest ja auch etwas anders machen können als Sexarbeit!“ , dann stimmt das nur bedingt. Vermutlich wäre ich in allen anderen Jobs depressiv geworden. Mein Bruder ist Musiker, und sicher hätte er auch etwas anderes werden können. Aber hätte er es gut gemacht? Wäre er glücklich geworden? Er hat eine Gabe, und er hat der Welt etwas zu geben, das großartig ist. Genauso verhält es sich bei mir auch. Meine Gabe ist, Menschen Berührung und Nähe zu geben und fabelhafte Orgasmen zu bescheren.
Dass Menschen dies wertschätzen, kann man nicht nur daran sehen, dass ich meinen Lebensunterhalt sehr gut bestreiten kann, Steuern zahle und somit zusätzlich zum Gemeinwohl beitrage. Nähe zu geben in einer berührungsarmen Welt, das war schon lange vor Corona verdienstvoll.
Die Dankesbriefe meiner Klient*innen sind zum Teil tief berührend. Das geht nicht nur mir so, viele Kolleg*innen schildern, dass eines der wunderbarsten Aspekte unseres Berufes der Dank ist. Von Menschen, die Kontakt, Lust und Sex erlebt haben, der sie glücklich gemacht hat. Das kann Biografien und Leben verändern.
Nun sind wir alle Zuhause und es heißt, wir sollten 2 Meter voneinander Abstand halten. Glücklich, wer nun einen Partner oder eine Partnerin hat: das Privileg der Berührung ist dem monogamen Paar vorbehalten. Keine gute Zeit für Singles und lose Subjekte (wie mich). Und für alle, für die Familie kein sicherer Ort ist.
Wir sind in eine Berührungsmoral der 50er Jahre zurückgefallen. Ich halte alle Regeln ein, telefoniere mir die Ohren wund, gehe Joggen, meditiere und mache Yoga, stelle meiner Mutter die Einkäufe vor die Tür und berühre wenn, dann nur meine Katze, mich selbst und ab und zu meinen Liebsten*.
All das ist für mich, wie für alle anderen auch, eine Art Albtraum, und täglich denke ich, dass wir daraus bald erwachen, aber dann kommt jemand aus dem Radio und sagt mir, das sei erst der Anfang. Ich bin paralysiert und jeden Tag habe ich das Gefühl, meine Geistesgegenwart geht mir ein Stück verloren.
Ich wälze mich ab und zu auf dem Teppich, um meinem Körper zu versichern, dass er noch Grenzen hat.
Mein eigenes Körpergewicht reicht nicht aus, um ihm das sinnvoll zu vermitteln. Ich fasse mich selbst an und masturbiere auch, das habe ich aber auch schon vorher nur mit mäßiger Leidenschaft getan. Ich bin Sexeducator und kenne all die Theorien , die darauf beruhen, dass die Voraussetzung für guten Sex ist, dass man fabelhaften SoloSex haben kann. Ich finde das pädagogisch richtig, und behaupte es regelmäßig gegenüber allen Coaching Klient*innen, um professionell zu sein. Ich gebe hiermit zum ersten Mal öffentlich zu, dass es auf mich nie wirklich zugetroffen hat. Ich möchte mich auf jemanden stürzen, oder gegriffen werden, ich liebe fremde Finger statt meiner eigenen an meinem Körper, an und in meiner Muschi, und ich bevorzuge Hände, Schwänze und Zungen deutlich gegenüber jedem Fucking Sexspielzeug, egal aus welchem fancy Weltraummaterial es gefertigt ist, wie utopisch viel es gekostet hat und wie stromlinienförmig es sich an meinen G-Punkt anschmiegt.
All das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau.
Ganz sicherlich gibt es größeres Leiden als… temporär ohne Arbeit zu sein. Im Radio höre ich Ratschäge für das „Home-office“ . Ganz wichtig: Die üblichen Routinen des Arbeitsalltages einhalten. Was heißt das für mich? Mich in im Latexkleid und Stiefeln an den Schreibtisch setzen und Kundenmails beantworten, die keine Termine buchen? Selfsuspension im Wohnzimmer? Oder Teddys fesseln? Ab und zu einen Dildo einführen oder facesitting mit Kuscheltieren machen? Atem- und Prozessarbeit mit meiner Katze? Meine Arbeitsroutine ist gestört.
Mein Körper versteht nicht den Entzug von Adrenalin, Serotonin und Oxytocin. Er vermisst die Tiefenentspannung, die darin besteht, im engen Körperkontakt mit jemand zu liegen, mit dem man gerade einen Ritt durch die Ekstase gewagt hat. Mein Schokoladenkonsum entwickelt sich proportional zu den bekanntgegebenen Infektionszahlen von Corona.
Bereits zeichnet sich ab, dass diese Krise nicht in kürzerer Zeit vorbei ist.
Neben einem finanziellen Einbruch im freien Fall, frage ich mich, wie mein Berufsleben sich in Zukunft entwickelt.
Die ganz Kreativen und Lösungsorientierten unter uns haben sich bereits in die Technik von Zoom und Co eingearbeitet und bieten CamSex, OnlineErziehung, ZoomHangouts und, ganz im Trend der 90er Jahre, Telefonsex an. Man dreht schon Videoclips und steigt auf den Verkauf von Merchandise (gebrauchte Schlüpfer, Strümpfe, was noch?) um.
Ich bin weder ein besonders visueller Mensch beim Sex, noch stehe ich auf Erziehungsspiele generell. Ich bin zwar freudig exhibitionistisch, ins Netz muss ich nicht unbedingt nackt. Reden beim Sex fällt mir, das möchte man nicht glauben, aber dies hier ist mein zweites Outing, eher schwer. Ich fühle lieber, als das ich rede. Tönen und Atmen und sogar Singen und Jauchzen ist kein Problem, aber ob dafür jemand zahlt?
Mir sagen alle: Du gibst doch Workshops! Mach doch einen Onlinekurs!
Bei dem Gedanken an Onlinekursen falle ich bereits seit über zwei Jahren, also seitdem ich das Thema bewege, in einen akuten Tiefschlaf. Ich habe meine Arbeit noch nie so verstanden, dass ich „dir in 7 Schritten den Weg für Y“ erklären kann. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, obwohl ich sehr weise bin. Ich habe unzählige Gruppen geleitet und Menschen in Einzelsessions gehalten. Ich kenne keine Lösungen, ich kenne nur Prozesse und Wegbereitung. Was ich kann ist, Menschen zu begleiten, wenn sie berührt sind, wenn sie sich öffnen, wenn sie verletzbar sind. Ich kann Ekstase und Lust, wenn sie nass ist, offen und bereit, oder schüchtern im Flur steht. Ich kann Improvisation und das Unerwartete. Ich kann Körpern zuhören, und nicht ihnen sagen, wie sie optimaler werden in 5 Schritten. Ich kann Nähe, die ergebnisoffen ist.
Und ich kann Menschen zusammenbringen. Ich kann einen Raum schaffen, damit sie experimentieren. Damit sie sich gegenseitig berühren. Ich erkläre ungern die Welt. Ich lasse sie lieber entdecken. Mit Welt meine ich tatsächlich die jenseits des eigenen Wohnzimmers und jenseits der Pfade von Zweierbeziehung. Aber genau dahin zielen Online Kurse. Wir werden privat. Wir sagen Ole und Uschi, wie es geht, damit sie zu zweit und allein Zuhause glücklich werden.
Öffentlicher Sex und Deine Errungenschaften – wie lange wird es dauern, bis wir Dich zurückerobert haben?
Es tut mir leid, Ihr Lieben, das ist mein Corona-Rant. Ich habe heute keine konstruktiven Lösungen für Dich.
Ich bin traurig und frustriert, denn ich habe Sorge, was aus unserer Kultur der Berührung wird. Was aus unserer sexuellen Kultur wird. Nicht zuletzt, was aus mir und meinen Kolleg*innnen in der Sexarbeit wird. Ich selbst habe Rücklagen für etwas 2-3 Monate. Einige müssen weiterarbeiten, trotz der hohen Gefährdung für sich selbst und andere. Grund ist wirtschaftliche Not: diese Personen würden durch alle Hilfsprogramme für Selbständige fallen und haben keinen Anspruch auf Grundsicherung, vielleicht weil sie keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben und nicht angemeldet sind. Es gibt Kunden, die die Notlage noch zusätzlich ausnutzen und die Preise drücken. Eine Aussicht auf das „Sexkaufverbot“: Wird Sexarbeit kriminalisiert, trifft dies vor allem marginalisierte Sexarbeiter*innen.
Huren geben Berührung und Nähe. Ich möchte unsere sexuelle Kultur nicht online, vielleicht bin ich die letzte hoffnungslos analoge, haptische Generation. Ich bin Hure geworden, eben weil ich nicht „irgendwas mit Medien“ machen wollte. Ich stehe dazu.
Haltet Abstand, ihr Lieben. Macht Euch heiße Gedanken. Erzählt sie Euch. Masturbiert. Gegenseitig zuschauen ist auch geil übrigens. Geht sogar via Whatsapp Videocall. Aber Achtung: Facebook hat eure Daten!
Orgasmen sind gut für das Immunsystem. Angst ist es defintiv nicht.
Bleibt gesund.
Eure Kristina Marlen
PS: Natürlich: All das wird vorbeigehen. Und ich werde dazulernen. Auch ich werde ein denkwürdiges Zoom-Format entwickeln, ganz sicher. Und es wird fabelhaft sein und Ihr werdet es alle kaufen wollen. Denn auch diese Wirtschaftskrise wird an uns vorbeiziehen. Mein ungeerdetes Gehirn ist ja schon am Arbeiten. Wenn Ihr Wünsche und Ideen habt, wie ich Euch mit meinem Wissen, meinen Fähigkeiten, meiner Profession beglücken kann auf Coronakompatiblen Wegen, dann meldet Euch bitte: mail@marlen.me
Ich freue mich darüber und auch über jede weitere Aufmunterung.
Bild von fabolous Toni Karat – melting point images – Testbild für das NARCISSISM Project – passenderweise sitze ich vor dem Spiegel und es geht um Auto-Erotik!
Der BesD – Berufsverband erotische und sexuelle… hat eine eigene Seite für Hilfsprogramme in Zeiten von Corona zusammengestellt!
Hier auch ein regelmäßig aktualisierter Blogbeitrag von Lilli Erdbeermund für den BesD Corona-Virus: Das sollten Sexarbeiter*innen (und alle anderen) jetzt beachten!
Die Kollegin Nicole Schulze hat eine Leetchi Kampagne für die Kolleg*innen des Straßenstrichs in Trier gestartet. Bitte spenden!
In Berlin gibt es eine Spendensammlung für alle Arbeiter*innen im Nachtleben– bitte Spenden!
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