Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mich in den sozialen Netzwerken pro Impfung positioniert, und wurde von Impfgegner*innen angegriffen. Man zeigte sich persönlich enttäuscht: Gerade ich würde doch mit meinem Aktivismus für körperliche Selbstbestimmung und Freiheit stehen, nach dem Motto „My body, my rules“. Ich möchte dieses Missverständnis um falsch verstandene Freiheit gerne aufklären.
Als Sexarbeiterin ist es mein Alltag, Infektionsrisiken zu minimieren. Kondome, Handschuhe, Leckläppchen und Desinfektionsmittel sind wirksame Mittel gegen die Verbreitung von sexuell übertragbaren Krankheiten und ganz selbstverständlich im Gebrauch, um mich, meine Kund*innen und natürlich auch meine Angehörigen zu schützen.
Genau so empfinde ich seit Anfang dieser Pandemie Hygieneregeln, Masken und Schnelltests als sinnvolle Verhaltensregeln. Wie viele andere war ich froh, dass im letzten Jahr auch ein Impfstoff zugelassen wurde, der die Möglichkeit bietet, das Risiko einer Ansteckung mit COVID-19 noch mehr zu reduzieren.
Klar, keine meiner Maßnahmen im Sex oder BDSM können 100%ig ausschließen, dass Menschen sich körperlich oder psychisch verletzen. Aber es ist mein Arbeitsethos, Gefahren zu managen und gering zu halten.
Sexuelle Freiheit bedeutet nicht, vollkommen untenrum frei herumzuvögeln und dabei Halleluja zu schreien, bis es alle anderen im Schritt juckt. Freiheit kommt mit Verantwortung.
Ich habe lange überlegt, diesen Blogbeitrag zu schreiben. Debatten auf Social Media zu dem Thema dienen inzwischen nicht mehr einem diskursiven Austausch, sondern sind Zeitverschwendung. Menschen hauen sich ihr Weltbild um die Ohren, Dialog findet nicht mehr statt.
Trotzdem ist es mir wichtig, Stellung zu beziehen und damit vielleicht Menschen zu inspirieren, die gerade unentschieden sind oder sich ratlos oder entwurzelt fühlen. Denn ich selbst fühle mich seit Monaten verloren.
Ich habe noch nichts Vergleichbares erlebt. Auch nicht, wie krass es einen hin und herwerfen kann zwischen Wut, Verständnis und Verunsicherung. Das Pandemiemanagement und die Kommunikation der Politik mit der Bevölkerung sind teilweise haarsträubend. Gesundheitspolitik, Bezahlung von Pflegekräften: full failure.
Ich kann gut verstehen, wenn Menschen auf einen „Druck von oben“ mit Widerstand reagieren. Die ganze Situation könnte eine zum Ausrasten bringen und es ist kein Wunder, dass der Impuls entsteht, in den Untergrund oder auf eine einsame Insel zu verschwinden.
Ein Teil der Menschen, denen ich mich tief verbunden fühle, mit denen ich eine Geschichte, Wissen und Ressourcen in Bezug auf Nähe und Miteinander, Empathie und Intimität, Körperarbeit und Sexualität teile, bilden heute ihre Überzeugungen aufgrund „alternativer Fakten“, welche von Wissenschaftsleugner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen verbreitet werden. Ich trauere um diese Beziehungen und die Verbundenheit, die gemeinsame Praxis. Es schmerzt mich, dass ich das Gefühl habe, dass ein „Common Ground“ verloren geht und ich hoffe, dass sich diese Gräben irgendwann wieder schließen lassen.
Eine Impfung ist das wichtigste und erfolgversprechendste Instrument der Pandemiebekämpfung, das wir derzeit haben. Es stehen alle Informationen zur freien Verfügung, um zu diesem Schluss zu kommen.
Diesen, wie ich finde sehr guten, Text hat SPIEGEL-Kolumnist Sascha Lobo für Menschen geschrieben, die sich nach wie vor unsicher sind, sich von der Informationsflut überfordert fühlen oder auf Telegram und Co schlimme Geschichten über die Impfung gelesen haben. Lese- und Teilempfehlung!
Wir sind nicht Teil eines „Experiments“. Es sind mittlerweile über 3,5 Millarden Menschen geimpft und damit ist der Impfstoff der bislang am besten erforschte in der Geschichte. Eine Impfung senkt das Risiko, sich zu infizieren und die Krankheit weiterzutragen. Sie schützt vor schweren Verläufen, sie schützt das Leben von vulnerablen Gruppen.
Ich hatte Covid trotz zweifacher Impfung. Die Krankheit ist ein Biest – und ich war dankbar, nicht rausfinden zu müssen, wie es ohne Impfung hätte sein können. Menschen sterben auf Intensivstationen, täglich, Personen in nicht nennenswertem Alter. Menschen meines Alters haben mit den Folgen von Long Covid zu kämpfen oder sterben mitunter auch – mit Mitte 40. Mögliche Nebenwirkungen einer Impfung sind nicht ansatzweise so erschreckend wie die möglichen Auswirkungen der Krankheit in ungeimpften Körpern.
Es geht bei der Impfung nicht nur um Solidarität mit „der Gesellschaft“. Oder um die Entlastung der Intensivmedizin, die bekanntermaßen am Limit arbeitet. Es geht um Eigeninteresse, um die gemeinsame Bekämpfung einer Pandemie, die uns alle seit zwei Jahren gängelt.
Einer Pandemie, die das Leben von Bodyworkern, Tänzer*innen, Sexarbeitenden und aller, die mit Nähe und Berührung zu tun haben, lahmlegt und in Frage stellt.
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