So sieht gute Arbeit in einer Demokratie aus: Am 23.April 2024 wurde eine Gruppe von Sexarbeiter*innen von der AG Queer der SPD-Fraktion in den Bundestag eingeladen, um unseren Perspektiven und Forderungen ehrlich zu lauschen.
„Sprecht mit uns, nicht über uns“ lautet seit Jahrzehnten die Forderung der Hurenbewegung, denn allzu oft werden bei Entscheidungen, die die Sexarbeit betreffen, ausgerechnet wir nicht gefragt: Als seien wir nicht die besten Expert*innen dafür, was unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen WIRKLICH verbessern würde.
Es ist Teil dieses entmündigenden Diskurses, dass sich selbsternannte Retter*innen anmaßen, über Menschen in der Sexarbeit global zu urteilen, ihnen ihre eigene Agenda und Motivation absprechen.
Sexarbeitende, die nicht aufhören wollen, Sexarbeitende die nicht „aussteigen“ wollen, Sexarbeiter*innen die aus ganz unterschiedlichen Gründen in der Sexarbeit eine Form gefunden haben, ihr Leben zu bestreiten, die darf es nach Ansicht dieser „Retter*innen“ nicht geben. Sie bieten als „Hilfe“ nur Verbote an – die Sexarbeitende nachweislich gefährden.
Sexarbeit polarisiert nach wie vor
Neben mir waren ebenfalls eingeladen: Johanna Weber (politische Sprecherin des BesD e.V.), Caspar Tate von Trans Sexworks, Sofia Tomova vom Bündnis der Fachberatungsstellen sowie Kolja Nolte (Pressesprecher des BesD und bekannt als „der dominus“ – hier kannst Du seinen eigenen Bericht lesen). Jede*r von uns konnte eine Vorstellung und ein Statement abgeben, danach war Raum für ein Q&A.
https://www.dominus.berlin/04-2024-der-dominus-bei-der-spd/Viele Personen aus der SPD-Fraktion waren per Video zugeschaltet, die Abgeordneten Anke Hennig, Falko Droßmann und Josephine Ortleb waren persönlich anwesend. Dabei mussten sie sich und uns eingestehen: Sich als Politiker*in PRO Sexarbeit einzusetzen, ist auch nicht so einfach.
Männliche Politiker, die sich mit dem Thema befassen, werden schnell als Freier oder Kumpel der „Zuhälterlobby“ beschimpft, und weibliche Fürsprecherinnen als Verräterinnen und Profiteurinnen des „Systems Prostitution“.
Ja, willkommen in unserer Welt, so sieht Stigma aus. Stigma trifft nicht nur Sexarbeitende, sondern auch alle, die mit ihnen arbeiten, leben oder sich für sie einsetzen.
Was sind die Fakten?
Nach nur sehr wenig Beschäftigung mit dem Thema wird klar, dass Verbote weder bei der Bekämpfung von Menschenhandel helfen, noch bei der Eingrenzung der Missstände und Kriminalität in der Sexarbeit. Das sagen nicht nur Sexarbeitende, sondern auch sämtliche Beratungsstellen, mittlerweile auch die Polizei und eine ganze Reihe von NGOs, unter anderem Amnesty International.
Ein Prostitutionsverbot zu fordern ist Teil eines moralischen und populistischen Diskurses, bei dem es schwer ist, wirkliche Argumente und eine realistische Darstellung der komplexen Situation in der Sexarbeit zu vermitteln.
Im folgenden veröffentliche ich mein Statement und den Appell, den wir an die Entscheidungsträger*innen aussprechen:
Mein Redebeitrag im Bundestag
Ich bin Kristina Marlen, 46 Jahre und seit 15 Jahren Sexarbeiterin. Ich habe mein Jurastudium und eine Begabtenförderung der Studienstiftung des deutschen Volkes aufgegeben zugunsten eines körpernäheren Jobs und bin dann Physiotherapeutin geworden.
So platt wie wahr: Da Physiotherapeut*innen absolut unterbezahlt sind, begann ich mit Sexarbeit. Was als Experiment gedacht war, ist nun schon lange Zeit mein leidenschaftlicher Vollzeitjob.
Ich arbeite mit sexuellen Massagen, als Escort und erotische Begleitung, als Domina und Bizarrlady und mittlerweile auch als Sexcoach. Das heißt, ich biete neben meinen regulären, genussorientierten Leistungen ein Feld an, das bislang in einer Grauzone liegt:
Die Sexualtherapie und -pädagogik erlaubt keinerlei sexuellen und expliziten Berührungen und funktioniert nur im Gespräch oder am bekleideten Körper. Ich biete Menschen einen sicheren Raum, in dem sie sich sexuell erfahren können, lernen können, berührt werden oder an einem Gegenüber üben können, was sie sich in ihren Partnerschaften nicht erlauben, entweder weil es nicht möglich ist oder weil sie einfach keine haben.
Zu mir kommen auch Menschen mit Trauma, die ihre Erlebnisse durch neue Erfahrungen im für sie sicheren Setting neu schreiben wollen, eine neue, lustvolle und selbstbestimmte Erfahrung der alten entgegensetzen wollen.
Es ist interessant, dass wir einige Formen der Sexarbeit haben, die akzeptiert sind – z.B- Sexualassistenz für Menschen mit Handicap – aber alle anderen „nicht behinderten“ Menschen, die sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen, werden abgewertet, als pervers erklärt und stigmatisiert.
Ich sage Ihnen: Es sind aufgrund unserer sexualrepressiven, sexistischen und heteronormativen Kultur viel mehr Menschen sexuell „behindert“ als man glauben möge, und der Bedarf, sexuelle, explizite Lern- und Heilräume zu schaffen ist enorm hoch.
Dieser Bereich in der Sexarbeit, in der Empowerment, Glück, Entwicklung stattfinden kann, zählt ebenfalls zur Prostitution und die Menschen, die jetzt meine dankbaren Kund*innen sind, wären unter einem Sexkaufverbot Kriminelle. Das schmerzt.
Zu meiner Geschichte: Ich habe mich von Anfang an mit queer feministischen Perspektiven auf Sexarbeit befasst. Meine Mutter war Feministin und auch SPD Politikerin – sie wäre heute sehr stolz auf mich und darauf, dass ich für meinen politischen Aktivismus im Bundesstag sitze!!
Ich wuchs auf in einem „tiefroten“ und feministisch geprägten Haushalt und trug bereits mit 14 einen PorNO-Sticker – ich war überzeugt von der Schädlichkeit von Porno für die einzelnen Frau und kollektiv alle Frauen.
Erst als ich meine erste sexuelle Dienstleistung erbracht habe und gemerkt habe, dass ich mich weder gedemütigt fühlte noch missbraucht, habe ich begonnen, mich auch intellektuell damit zu befassen.
Es ist erstaunlich, wie einseitig in Deutschland die feministische Haltung zu Sexarbeit ist, was wir einer recht populären „Oberfeministin“ verdanken, die sich mittlerweile ganz am rechten Rand ihre politischen Schulterschlüsse sucht.
Es lohnt sich, einen Blick auf die angelsächsische oder US-amerikanische Debatte zu werfen: Feministische Perspekiven auf Sexarbeit sind dort viel diverser als in Deutschland! Man denke nur an die „Sexwars“ in den 80ern und 90ern, wo viel über Pornographie debattiert wurde.
Aus der Perspektive eines sexpositiven Feminismus lässt sich sagen, dass jede Form von Verbot ein massiver Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung wäre, insbesondere von Frauen.
Warum?
Weil dabei indirekt auch immer verhandelt wird, was weibliche Sexualität darf und kann, da der Diskurs um Sexarbeit stark gegendert ist. Es geht in der öffentlichen Debatte zumeist um Frauen als Opfer und es wird ihnen eine eigene Agenda abgesprochen – sie werden entmündigt.
Prekär arbeitende Queers und Frauen trifft dies besonders, weil scheinbar jede Form von schlecht bezahlter und ausbeuterischer Lohnarbeit akzeptabel ist (Pflege, Reinigung, Fabriken, Careberufe) und nur die Arbeit mit der eigenen Sexualität tabuisiert wird.
Zudem wäre ein Verbot eine indirekte Wiedereinführung des Paragrafen 175 (Strafbarkeit von Homosexualität) der in BRD seit 1994 abgeschafft ist – diesmal würde er aber auch weibliche Homosexualität betreffen, weil auch weibliche Kundschaft kriminalisiert würde (!!!).“
Das würde mich zum zweiten Punkt bringen, nämlich dass ich mich seit Jahren um weibliche/queere Kundschaft bemühe, und diese inzwischen fast 60% meiner Kundschaft ausmachen.
Bei diesen Personen stehen auch sexuelle Selbstbestimmung, Selbstfindung und ein sicherer Raum für die eigene Sexualität im Vordergrund. Viele meiner Klient*innen arbeiten Trauma auf und erarbeiten sich ein neues sexuelles Selbstbewusstsein.
Sexarbeit in diesem Sinne kann auch Heilarbeit sein, weil alle klassischen Therapiemethoden das Körperliche, und vor allem das Sexuelle außen vor lassen.
Ein Raum in dem es nur um die eigenen Wünsche geht bedeutet Empowerment. Ein Verbot würde all diese Aspekte von Sexarbeit zunichte machen und zudem zu einer massiv sex-negativen und -repressiven gesellschaftlichen Stimmung beitragen.
Und eine solche führt vor allem zur Diskriminierung von weiblichen, queeren und im weitesten Sinne nicht normkonformen Sexualitäten. Für Sie hier als AG Queer ganz sicherlich nachvollziehbar!
Um der Stigmatisierung entgegenzuwirken, ist es wichtig, ein realistisches Bild der Sexarbeit zu vermitteln. Nach wie vor befinden wir uns in einem polarisierenden Diskurs, in dem es nur die „privilegierte Domina“ und die „vergewaltigte Rumänin“ gibt. Wir müssen da raus und die vielseitigen Motivationen und Lebensrealitäten in der Sexarbeit sichtbar machen.
Das „Othering“ und die Viktimisierung die von Seiten vieler Sexarbeitsgegner*innen betrieben werden, sind Ausschlussverfahren und haben den Zweck davon abzulenken, dass Sexismus, Rassismus, soziale Ungleichheit und die Ausbeutung von Frauen* Teil unserer Gesellschaft ist und nicht etwa ein spezielles Problem in der Sexarbeit.
Es bündelt sich hier nur so enorm, weil Sexarbeitende häufig mehrfach diskriminiert und stigmatisiert sind.
Daher sind unsere Forderungen: Mehr Rechte, mehr Empowerment, mehr akzeptierende Beratung.
Stärkt Sexarbeitenden den Rücken anstatt ihnen die Existenzgrundlage zu entziehen.
Und das Wichtigste:
Wir wissen, wie schwierig und unpopulär es ist, sich für unsere Belange einzusetzen. Wir appellieren daran, dass das, was wir hier heute besprechen, in den entscheidenden Momenten der Beschlussfindung nicht den falschen Prioritäten zum Opfer fällt.
Wir wissen, dass Politik häufig ein Tauschhandel ist und unser Thema ist eines, das leicht als Tauschware über den Tisch geht. Wir brauchen Allianzen und Menschen die uns zuhören, so wie heute – und die dieses Wissen auch in reale politische Handlungen überführen.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Liebe Marlen, ich stimme in sehr vielen Punkten mit dir überein. Ich bin selbst bisexuell / queer und habe auch als „priviligierte Domina“ sowie als BDSM- und Sexualcoach/assistentin inzwischen einen recht hohen Anteil an weiblicher Kundschaft, worüber ich mich auch sehr freuen. Auch war ich selbst schon Kundin bei Erotikdienstleister*innen, und auch ich habe sowohl mit männlicher, weiblicher und diverser Kundschaft sowie Freund*innen auch mit BDSM-kathartischen Techniken und gezielten Rollen-Imitationen am Überschreiben unglücklicher Vergangenheits-Erinnerungen gearbeitet. Inzwischen habe ich sogar das Zweitstudium der Psychologie um eine Heilpraktiker-Zulassungsprüfung für den Bereich der Psychotherapie ergänzt. Mein erstes Studium in Physik hatte ich viele Jahre zuvor erfolgreich abgeschlossen, und habe dann die Wahl der Nebentätigkeit als Domina bei fortgesetzter Nerd-Haupttätigkeit getroffen. Sehr, sehr vieles, was du schreibst, spricht mir also voll aus der Seele. Lediglich habe ich deine Anmerkung zum Paragrafen 175 im Zusammenhang mit der Prostitutionspolitik nicht verstanden. Inwiefern wird dieser indirekt wieder eingeführt, wenn weder hetero- noch homo- noch poly/pan- sexuelle Menschen Dienstleistungen von „uns“ in Anspruch nehmen dürfen, bzw. diese auch ihrerseits nicht anbieten dürfen? Ich habe jedenfalls aus Anbieterinnen- und Freierinnen-Perspektive erlebt, dass es völlig unterschiedliche Motivationen für Angebot und Nachfrage bzgl. Profi-Service rund um BDSM und Vanilla-Sex gibt, sowie sehr unterschiedliche Arten der jeweiligen Ausgestaltung der professionellen Dienstleistungen, allerdings auch der finanzinteresselos ausgelebten Intimität, und dass meist Menschen nur an eine der vielen kombinatorischen Möglichkeiten denken, die ihrer eigenen Lebensrealität bis dato entspricht, und andere Perspektiven kaum einnehmen können – selbst bei gutem Willem. Und ich befürchte, dass die Politik zwar mit uns reden „sollte“, aber bislang vermutlich gar kein wirklich Interesse daran hat… LG, Sara